20 Jahre Tschernobyl - die Lebensmittelüberwachung Baden-Württemberg zieht Bilanz

23.000 Lebensmittel-, Boden- und Futtermittelproben gemessen
Punktuell Pilze und Wild noch heute belastet

Die 20. Wiederkehr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 ist Anlass, Bilanz zu ziehen. In diesen 20 Jahren wurden vom CVUA Stuttgart und ab 1991 auch vom CVUA Freiburg über 23000 Proben der verschiedenster Art gemessen. Diagramm 1 zeigt das Probenspektrum.

 

Vorschaubild Diagramm 1.
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Diagramm 1: Probenspektrum (Zahl der Untersuchungen auf Cs-137 1986 - 2004).

 

Als Folge dieser Reaktorkatastrophe kam es 1986 in Deutschland zu teilweise erheblichen Kontaminationen mit künstlichen Radionukliden. Besonders betroffen vom radioaktiven Niederschlag (Fallout) waren in Baden-Württemberg der Raum Oberschwaben sowie in Bayern Gebiete südlich der Donau.

Erste Vorboten der Auswirkungen der Katastrophe konnten bereits im Niederschlag eines abendlichen Gewitters vom 29. April 1986 festgestellt werden. Das CVUA Stuttgart war innerhalb weniger Tage für den Massenansturm der Proben einsatzbereit. In den folgenden Monaten wurden an die Leistungsfähigkeit des Radiochemischen Messlaboratoriums, das bereits seit 1960 im Rahmen der Lebensmittelüberwachung zentral für Baden-Württemberg die Belastung von Lebensmitteln durch den Fallout früherer Atombombenversuche in der Atmosphäre verfolgte, allerhöchste Ansprüche gestellt. Bis zum Jahresende wurden ca. 4000 Proben von Lebensmitteln einheimischer Erzeugung und von Importen vorwiegend mit Hilfe der Gamma-Spektrometrie auf die Belastung mit aus diesem Unfall stammenden Radionukliden untersucht.

In der Anfangsphase traten bei sämtlichen Proben die Radionuklide Jod 131, Jod 132, Tellur 132, Cäsium-134 und Cäsium-137 auf. Nach dem vollständigen Abklingen der Aktivität der kurzlebigen Nuklide (J-131, J-132, Te-132) wurden ab Juli 1986 die beiden Cäsium-Isotope (Cs-137: Halbwertszeit 30 Jahre, Cs-134: 2,5 Jahre) regelmäßig bis heute gemessen. Strontium-90 war nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl kein Problem, ganz im Gegensatz zu dem Fallout der Kernwaffenexperimente der 1960er Jahre.

Wie das Diagramm 2 zeigt, wurden in der gemessenen Milch die heute gültigen Grenzwerte an Cs-137 (370 Bq/l) zu keiner Zeit überschritten. Wobei eine Grenzwertüberschreitung nicht automatisch bedeutet, dass eine akute Gesundheitsgefährdung zu erwarten ist. Dieser Wert ist ein Vorsorgewert nach dem Prinzip der Minimierung der Strahlenbelastung (§ 1 Strahlenschutzvorsorgegesetz StrVG).

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Diagramm 2: Milch 1986/1987 Vergleich mit Werten von 2004.

 

Seit 1990 verfügt das Land über eine zweite Mess-Stelle am CVUA in Freiburg, 1999 kamen die Untersuchungen von Futtermitteln von der Staatlichen Landwirtschaftlichen Untersuchungs- und Forschungsanstalt (LUFA) an das CVUA Stuttgart.

Die Messergebnisse zeigten, dass die Lebensmittel immer unbedenklich und nur gelegentlich auffällig waren.

 

Radioaktive Belastung der Gesamtkost
Die durchschnittliche tägliche Radioaktivitätsaufnahme eines Verbrauchers lässt sich am besten anhand von Gesamtkost-Tagesrationen ermitteln. Daher wird seit 1986 in einem separaten Messprogramm wöchentlich die Ganztageskost (ein komplettes Mittagessen sowie Frühstück und Abendessen inklusive Getränke) eines Krankenhauses in Stuttgart auf den Gehalt an Cäsium-137 (Cs-137) untersucht. Dazu wird die Gesamtprobe homogenisiert und daraus die Messung vorgenommen. Die Entwicklung der Messergebnisse von Gesamtkost zeigt Diagramm 3. Selbst der höchste gemessene Wert liegt um den Faktor 100 unter dem Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm Lebensmittel (Bq/kg). Die Werte sind von 6,5 Bq/Tag und Person im Jahr 1987 auf unter 0,1 Bq/Tag und Person abgesunken.

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Diagramm 3: Gesamtkost.

 

Wildpilze
Manche Pilzarten haben die Fähigkeit, dem Boden Cäsium zu entziehen und dieses zu speichern. Dies trifft besonders auf Maronenröhrlinge zu, die immer wieder die "Spitzenreiterrolle" an Cs-137-Werten übernehmen. Bei den Blätterpilzen gibt es dagegen nur wenige Sorten, die Cäsium anreichern. Hierzu gehören der Reifpilz und der Trompetenpfifferling. Für Wildpilze ist eine große Schwankungsbreite der Messergebnisse, je nach Standort, festzustellen. Der Grund hierfür liegt zum einen in der unterschiedlichen Belastung der einzelnen Landstriche im Jahr 1986; Südwürttemberg stellte sich dabei als ein besonders belastetes Gebiet heraus. Demgegenüber war die Belastung in der Rheinebene wesentlich geringer. Zum andern spielt die Bindung des Cäsiums im Boden eine große Rolle für die Aufnahme durch Pflanzen und Tiere. Für Trendanalysen ist z. B. bei Pilzen ein Vergleich mit Vorjahreswerten nur bei derselben Pilzsorte und vom selben Standort möglich. Solche Proben stehen jedoch nicht in jedem Jahr ausreichend zur Verfügung. Die Belastung einer Pilzart schwankt von Standort zu Standort wesentlich stärker als die Änderungen von Jahr zu Jahr: Messergebnisse von Pilzen, die nur wenige Meter voneinander entfernt wachsen, können um Zehnerpotenzen unterschiedlich sein. Deshalb kann für Pilzsammler keine allgemein verbindliche Empfehlung ausgesprochen werden, außer der, dass eine gelegentliche Pilzmahlzeit heute kein nennenswertes Strahlenrisiko mehr darstellt. Zuchtpilze sind in der Regel nur gering oder gar nicht belastet.

Waren anfangs Pilze aus Osteuropa noch bis zu ca. 7000 Bq/kg belastet, so lagen die Werte nach 1995 unter 600 Bq/kg, mit Ausnahme litauischer Pilze im Jahr 2001 mit einem Gehalt von 645 Bq/kg.

2004 wurde bei Maronenröhrlingen eines Pilzsammlers als Spitzenwert ein Gehalt an Cäsium-137 von 1603 Bq/kg gemessen. Bei Einfuhruntersuchungen von Pilzen aus Drittländern wurde 2004 bei keiner Probe eine Überschreitung des Grenzwertes von 600 Bq/kg festgestellt.

Das Diagramm 4 gibt einen Einblick in die Jahresspitzenwerte der Jahre 1986-2004, die von 25000 und 30000 Bq/kg in den Jahren 1986 und 1987 bis 1603 Bq/kg im Jahr 2004 reichen. Das Diagramm 5 zeigt die Entwicklung der Probenzahlen im selben Zeitraum.

Vorschaubild Diagramm 4.
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Diagramm 4: Spitzenwerte Maronenröhrlinge.

 

Vorschaubild Diagramm 5.
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Diagramm 5: Pilzuntersuchungszahlen.

 

Wildpilze unterliegen nicht der amtlichen Lebensmittelüberwachung, da sie aus Naturschutzgründen nicht vermarktet werden dürfen. Die Proben sind uns von Sammlern übergeben worden, die die Pilze für den Eigenbedarf gesammelt haben.

 

Radioaktivitätsüberwachung bei Wildschwein-Fleisch
Der Cs-137-Gehalt hat in den oberirdischen Nahrungspflanzen des Rehwildes deutlich abgenommen, weshalb auch das Rehfleisch nur noch geringer belastet ist.

 

Vorschaubild Diagramm 6.
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Diagramm 6: Cs-137 in Wildschwein-Proben.

 

Vorschaubild Diagramm 7.
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Diagramm 7: Cs-137 in Rehwild-Proben.

 

Bei Wildschweinen (Schwarzwild) ist jedoch eher ein Anstieg der Belastung zu erkennen. Auch 20 Jahre nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl treten in einigen Teilen Baden-Württembergs z.T. noch deutliche Cs-137-Kontaminationen bei Wildschweinfleisch auf. Der Grund hierfür liegt in der sehr langen Verrottungszeit von Nadelstreu, über welches das Cäsium auch als trockener Niederschlag (Staub) aus der Luft gefiltert wurde sowie in der hohen Bioverfügbarkeit des Cäsiums im mineralstoffarmen, meist sauren Wald-Humusboden. Dort kann Cäsium im Gegensatz zu den landwirtschaftlich genutzten Böden nicht von Tonmineralen festgehalten werden. Insbesondere die von den Wildschweinen mit Vorliebe gefressenen Hirschtrüffel reichern das Cäsium aus den belasteten Böden stark an und verursachen hohe Kontaminationen des Wildfleisches, was durch Mageninhaltsuntersuchungen bestätigt wurde. Zusätzlich zu den bereits 1986 als stärker belastet erkannten Landesteilen im Südosten kamen etwa seit dem Jahr 2000 weitere Gebiete mit erhöhter Wildschwein-Kontamination im Bereich Schwetzingen, Gaildorf, Schluchsee, Sankt Blasien sowie in den Landkreisen Calw, Enzkreis und Freudenstadt hinzu. Um sicherzustellen, dass kein Wildschweinfleisch mit mehr als 600 Bq Cs-137 in den Handel gelangt, hat die Landesregierung in Baden-Württemberg ein verstärktes Überwachungsprogramm installiert. Danach muss in Gemeinden, die als belastet ausgewiesen sind, jedes erlegte Wildschwein vor seiner Vermarktung auf Radioaktivität durch Eigenkontrollmessstellen der Jägerschaft untersucht werden. Zusätzlich wird in den übrigen Regionen im Rahmen eines amtlichen Monitoringprogramms Wildbret stichprobenartig durch die Chemischen und Veterinäruntersuchungsämter Freiburg und Stuttgart untersucht. Berücksichtigt werden ebenso die umfangreichen Messdaten der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten.

Bezogen auf die Gesamtprobenzahl aus dem Zeitraum September 2005 bis Februar 2006 wurde der Grenzwert von 600 Bq/kg in ca. 10% der Fälle überschritten, in belasteten Gebieten dagegen in bis zu ca. 25% der Fälle. Der gemessene Spitzenwert betrug 8728 Bq Cs-137/kg bei einem Wildschwein aus dem Landkreis Ravensburg.

Radioaktivitäten im Überblick (alle Landkreise, 01.09.2005 - 31.03.2006)

Cs-137 in Wildschweinproben aus Baden-Württemberg (Maximalwerte, 01.09.2005 - 31.03.2006)

Cs-137 in Wildschweinproben aus Baden-Württemberg (Medianwerte, 01.09.2005 - 31.03.2006)

 

Das CVUA Freiburg bereitet die Ergebnisdaten zentral für Baden-Württemberg auf und veröffentlicht diese monatlich aktualisiert unter:
http://freiburg.untersuchungsaemter-bw.de/fr_fachartikel/fr_radioaktiv.html

 

 Weitere Informationen:

Was versteht man unter Radioaktivität?

 

 

Artikel erstmals erschienen am 21.04.2006